Montag, 24. Juni 2013

Der kleine Prinz


2005: Ich liege auf dem Rasen und starre in den Himmel. Hallo! Siehst du mich? Du siehst mich. Hastig wische ich mir eine Träne von der Wange, aber es kommen mehr und mehr Tränen und sie kitzeln im Ohr. Ich liebe dich.

 -Drei Jahre früher-

Wer ist das? Langsam schaue ich hinter Papas Beinen hervor. Ich bin acht Jahre alt, es ist Weihnachten 2002 und auf dem Teppich, auf dem meine Schwester Sandra und ich immer gespielt haben, steht ein Babykorb. Vor lauter Decken erkenne ich kaum das kleine Bündel darin. „Du hast uns gar nichts gesagt.“, murmele ich. Sandra ist forscher, sie kniet sich neben das Kind und schaut es stumm an. Sie ist sechs Jahre alt. „Das ist euer Bruder.“ flüstert mein Vater. Er befreit sich aus dem benebelnden Duft überschwemmender Gefühle und geht mit mir nach vorn. Als er ihn aus seinem Körbchen nimmt, hängen Kabel an ihm. Er hat Kleber auf der Brust und wenn er schläft, wird er an einer Maschine angeschlossen. „Ist etwas nicht in Ordnung mit ihm?“, frage ich. Mich beschleicht plötzlich ein ungutes Gefühl, drängt die Weihnachtsharmonie und die Freude über das Kind in eine Ecke. Papa schüttelt den Kopf. Er setzt mir meinen Bruder, Finn-Ole, auf den Schoß. Ich umfasse ihn mit meinen Armen, aber Papa hält ihn zunächst mit fest. Er wirkt so zerbrechlich und so pummelig zugleich. Und sein Rücken ist ganz warm. Sein hellblauer Strampler ist nämlich aus Frottee. Als er gefüttert wird, will ich auch probieren. Aus einem Fläschchen sauge ich warme Milch. Ieh!

Nachts, wenn das Gerät piept, rennen entweder Papa oder seine Mama ganz schnell zu seinem Bettchen und rütteln ihn wach. Ich finde das ziemlich gemein, ihn andauernd zu wecken, aber Papa erklärt mir, dass er, wenn das Gerät piept, nicht mehr atmet. Und nur, wenn er wach wird, setzt sein Atem wieder ein. Ab diesem Moment schwebt neben dem unfassbaren Glücksgefühl immer ein Teil der Sorge. Aber ich bin stolz. Niemand meiner Freundinnen kriegt in meinem Alter noch ein Geschwisterkind. Die meisten Geschwisterkinder sind bis zu drei Jahre jünger oder älter. Aber ich habe einen kleinen Bruder und werde von meinen Klassenkameradinnen mächtig bewundert.
Ist ja auch etwas tolles, so ein kleiner Bruder. 

Mit der Zeit lernen wir seinen Charakter kennen, soweit man Charakterzüge eines Kindes erkennen kann. Er hat ein Segelohr, weil es sich beim Liegen umgeklappt hat. Er hat meinen Papa angepinkelt, was ich als Achtjährige natürlich sehr lustig finde. Er geht gerne Spazieren. Und das tut er wirklich gerne, eingerollt in seinem Lammfell spazieren wir Kilometer lang. Eigentlich sind Sandra und ich todmüde.
Die Zeit rennt, bald schon robbt er fleißig durch das Haus. Er fühlt sich immer noch so weich und kuschelig an, wie am Anfang. Und wir lernen mit den Schwierigkeiten, die es bei der Geburt gab, umzugehen. Wir wissen jetzt, wie die Maschine funktioniert und das wir vorsichtiger sein müssen. Seine Mama sagt, wenn er erst einmal ein Jahr alt ist, ist die größte Gefahr vorbei. Und wenn er groß ist, interessiert es auch niemanden mehr, ob er damals an Maschinen hing. Wir wiegen uns alle in großer Sicherheit. 

Sommer 2003: Ich bin mit Mama, Ihrem Freund und Sandra im Urlaub. Wir sind in den Schwarzwald gefahren und müssen feststellen, dass ich die Sonne nicht gut vertrage. Wir sind keine drei Tage dort und ich liege mit einem Sonnenstich im Bett. Ich fühle mich hundeelend. Und dann klingelt das Telefon. Ich habe meine Mutter selten so energisch gesehen. Sie drückt uns aus der Tür und sagt, wir sollen auf dem Spielplatz spielen. Ich taumel durch die Sonne und setze mich schließlich auf eine Wippe.
Als wir wieder zuhause sind, planen Mama und ich fleißig meinen neunten Geburtstag. Wir feiern ausgelassen und fröhlich, Mama lässt sich nichts anmerken. Aber dann kommt Papa. Drei Tage nach meinem Geburtstag ruft Mama uns in die Küche. Papa zieht mich auf den Schoß. Er legt den Arm über mich, aber nicht, als würde er mich beschützen, wie er es sonst immer tut, sondern als müsse er sich halten. Ich bin verwirrt und der ernste Gesichtsausdruck meiner Mutter macht mir Angst. Sie lächelt nicht einmal, als ich sie unsicher anlächele. Es kommt wie ein Schnitt durch den Magen. „Finn-Ole ist tot.“  Ich schaue meinen Papa an, der gerade solch einen Unsinn erzählt. „Du lügst.“, werfe ich ihm vor. Ich glaube ihm kein Wort. Er kann nämlich nicht einfach sterben, weil er zuletzt noch am Leben war. Das ist für mich völlig unverständlich. Das kann einfach nicht wahr sein. Und dann sehe ich Tränen in den Augen meines Vaters und zweifele an meiner Entschlossenheit. Wir haben doch ganz feste auf ihn aufgepasst. Ein dicker Kloß versperrt meinen Hals, nimmt mir die Luft zum Atmen, selbst die zum Reden. Kein Wort kommt aus meiner Kehle raus und erst, als mein Vater mich feste an sich drückt, kommt die Info in meinem Kopf an. Warum?
„Er hat aufgehört zu Atmen.“ Aber wir hatten die Maschinen. Wer ist nicht hingerannt, als sie gepiept hat? Wer hat nicht auf ihn aufgepasst? Wer hat das zugelassen. Aber die Maschine hat nicht gepiept. Warum, weiß keiner. 
Er ist einfach eingeschlafen. 8 Monate, 14 Tage.


*30.11.2002
†13.08.2003


 „Wenn Du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es Dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können! Und wenn Du Dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein! Du wirst Lust haben mit mir zu lachen und Du wirst manchmal Dein Fenster öffnen“

-Der kleine Prinz-

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