2005: Ich liege auf dem Rasen und starre in den Himmel.
Hallo! Siehst du mich? Du siehst mich. Hastig wische ich mir eine Träne von der
Wange, aber es kommen mehr und mehr Tränen und sie kitzeln im Ohr. Ich liebe
dich.
-Drei Jahre früher-
Wer ist das? Langsam schaue ich hinter Papas Beinen hervor.
Ich bin acht Jahre alt, es ist Weihnachten 2002 und auf dem Teppich, auf dem
meine Schwester Sandra und ich immer gespielt haben, steht ein Babykorb. Vor
lauter Decken erkenne ich kaum das kleine Bündel darin. „Du hast uns gar nichts
gesagt.“, murmele ich. Sandra ist forscher, sie kniet sich neben das Kind und
schaut es stumm an. Sie ist sechs Jahre alt. „Das ist euer Bruder.“ flüstert
mein Vater. Er befreit sich aus dem benebelnden Duft überschwemmender Gefühle
und geht mit mir nach vorn. Als er ihn aus seinem Körbchen nimmt, hängen Kabel
an ihm. Er hat Kleber auf der Brust und wenn er schläft, wird er an einer
Maschine angeschlossen. „Ist etwas nicht in Ordnung mit ihm?“, frage ich. Mich
beschleicht plötzlich ein ungutes Gefühl, drängt die Weihnachtsharmonie und die
Freude über das Kind in eine Ecke. Papa schüttelt den Kopf. Er setzt mir meinen
Bruder, Finn-Ole, auf den Schoß. Ich umfasse ihn mit meinen Armen, aber Papa
hält ihn zunächst mit fest. Er wirkt so zerbrechlich und so pummelig zugleich.
Und sein Rücken ist ganz warm. Sein hellblauer Strampler ist nämlich aus
Frottee. Als er gefüttert wird, will ich auch probieren. Aus einem Fläschchen
sauge ich warme Milch. Ieh!
Nachts, wenn das Gerät piept, rennen entweder Papa oder
seine Mama ganz schnell zu seinem Bettchen und rütteln ihn wach. Ich finde das
ziemlich gemein, ihn andauernd zu wecken, aber Papa erklärt mir, dass er, wenn
das Gerät piept, nicht mehr atmet. Und nur, wenn er wach wird, setzt sein Atem
wieder ein. Ab diesem Moment schwebt neben dem unfassbaren Glücksgefühl immer
ein Teil der Sorge. Aber ich bin stolz. Niemand meiner Freundinnen kriegt in
meinem Alter noch ein Geschwisterkind. Die meisten Geschwisterkinder sind bis
zu drei Jahre jünger oder älter. Aber ich habe einen kleinen Bruder und werde
von meinen Klassenkameradinnen mächtig bewundert.
Ist ja auch etwas tolles, so ein kleiner Bruder.
Mit der Zeit lernen wir seinen Charakter kennen, soweit man
Charakterzüge eines Kindes erkennen kann. Er hat ein Segelohr, weil es sich
beim Liegen umgeklappt hat. Er hat meinen Papa angepinkelt, was ich als
Achtjährige natürlich sehr lustig finde. Er geht gerne Spazieren. Und das tut
er wirklich gerne, eingerollt in seinem Lammfell spazieren wir Kilometer lang.
Eigentlich sind Sandra und ich todmüde.
Die Zeit rennt, bald schon robbt er fleißig durch das Haus.
Er fühlt sich immer noch so weich und kuschelig an, wie am Anfang. Und wir
lernen mit den Schwierigkeiten, die es bei der Geburt gab, umzugehen. Wir
wissen jetzt, wie die Maschine funktioniert und das wir vorsichtiger sein
müssen. Seine Mama sagt, wenn er erst einmal ein Jahr alt ist, ist die größte
Gefahr vorbei. Und wenn er groß ist, interessiert es auch niemanden mehr, ob er
damals an Maschinen hing. Wir wiegen uns alle in großer Sicherheit.
Sommer 2003: Ich bin mit Mama, Ihrem Freund und Sandra im
Urlaub. Wir sind in den Schwarzwald gefahren und müssen feststellen, dass ich die
Sonne nicht gut vertrage. Wir sind keine drei Tage dort und ich liege mit einem
Sonnenstich im Bett. Ich fühle mich hundeelend. Und dann klingelt das Telefon.
Ich habe meine Mutter selten so energisch gesehen. Sie drückt uns aus der Tür
und sagt, wir sollen auf dem Spielplatz spielen. Ich taumel durch die Sonne und
setze mich schließlich auf eine Wippe.
Als wir wieder zuhause sind, planen Mama und ich fleißig
meinen neunten Geburtstag. Wir feiern ausgelassen und fröhlich, Mama lässt sich
nichts anmerken. Aber dann kommt Papa. Drei Tage nach meinem Geburtstag ruft
Mama uns in die Küche. Papa zieht mich auf den Schoß. Er legt den Arm über
mich, aber nicht, als würde er mich beschützen, wie er es sonst immer tut,
sondern als müsse er sich halten. Ich bin verwirrt und der ernste
Gesichtsausdruck meiner Mutter macht mir Angst. Sie lächelt nicht einmal, als
ich sie unsicher anlächele. Es kommt wie ein Schnitt durch den Magen. „Finn-Ole
ist tot.“ Ich schaue meinen Papa an, der
gerade solch einen Unsinn erzählt. „Du lügst.“, werfe ich ihm vor. Ich glaube
ihm kein Wort. Er kann nämlich nicht einfach sterben, weil er zuletzt noch am
Leben war. Das ist für mich völlig unverständlich. Das kann einfach nicht wahr
sein. Und dann sehe ich Tränen in den Augen meines Vaters und zweifele an
meiner Entschlossenheit. Wir haben doch ganz feste auf ihn aufgepasst. Ein
dicker Kloß versperrt meinen Hals, nimmt mir die Luft zum Atmen, selbst die zum
Reden. Kein Wort kommt aus meiner Kehle raus und erst, als mein Vater mich
feste an sich drückt, kommt die Info in meinem Kopf an. Warum?
„Er hat aufgehört zu Atmen.“ Aber wir hatten die Maschinen.
Wer ist nicht hingerannt, als sie gepiept hat? Wer hat nicht auf ihn
aufgepasst? Wer hat das zugelassen. Aber die Maschine hat nicht gepiept. Warum,
weiß keiner.
Er ist einfach eingeschlafen. 8 Monate, 14 Tage.
†13.08.2003
„Wenn Du bei Nacht den Himmel
anschaust, wird es Dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von
ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben,
die lachen können! Und wenn Du Dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich
gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein! Du wirst Lust haben mit mir
zu lachen und Du wirst manchmal Dein Fenster öffnen“
-Der kleine Prinz-
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